Zwischen Gottspielen und Arten-Erhaltung

Was reizt eigentlich am Rassegeflügel-Züchten? Wie stark trifft die Geflügelpest? Ein Ortsbesuch in Aurich-Oldendorf


Theo Suntken aus Esens begutachtet ein Zwerg Australorps, eine alte Haushuhnrasse. Er ist seit 1978 Bewertungsrichter.

Marcardsmoor/Aurich-Oldendorf – Stundenlang hat sich Reinhard Rademacher in den vergangenen Tagen mal wieder hinter sein Haus zurückgezogen, um der Schöpfung nachzuhelfen. Dort, wo er zuweilen ein klein wenig Gott spielt, hat der Metall-Industriemeister aus Marcardsmoor nach und nach 15 Tauben aus Käfigen gehoben, sie gewaschen, ihre Krallen geputzt, ihre Hauben mit der Nagelschere frisiert, kleine Federn mit gefiederfremden Farben herausgezupft, um die gurrenden Grazien schön zu machen für ihren Auftritt. Den hatten sie unter den prüfenden Augen von Bewertungsrichtern bei der Ortsschau des Ge- flügelzucht- und Vogelschutzvereins Spetzerfehn Großefehn am Wochenende in der alten Dorfschule in Aurich-Oldendorf. Dort gackerten auch Hühner, krähten Hähne, quakten Enten. Fast 230 Vögel ins- gesamt wurden von vier Preisrichtern kritisch beäugt. Zwei Jahre lang hatte es solche Schauen in Ostfriesland nicht gegeben, weil Corona beim Menschen und zum Teil auch die Geflügelpest bei den Tieren als jeweilige Infektionsrisiken zur Absage solcher Veranstaltungen geführt hatten. Lars Steenken (Berne), Vorsitzender des Landesverbands des Rassegeflügelzüchter Weser-Ems, geht so weit zu sagen: „Diese zwei Jahre haben uns als Züchter um zehn Jahre zurückgeworfen.“


Reinhard Rademacher putzt eine seiner süddeutschen Schildtauben.

Selbstverliebtheit kann den Blick verstellen
Denn den Vereinsmitgliedern gehe es um die möglichst originalgetreue Erhaltung alter Rassen, sei es das Altsteirer Huhn, die Schildtaube, das Brakel- Huhn, die schwarze Augsburger Henne oder der gesperberte Dominikaner. „Natürlich entwickeln Züchter über die Jahre ein profundes Wissen darüber, welche Merkmale die jeweilige Rasse ausmachen. Aber man mag ja seine ei-genen Tiere, wünscht sich auch, dem Ideal nahe zu kommen, und da kann es schon passieren, dass eine gewisse Selbstverliebtheit den Blick verstellt und ich nicht sehe oder nicht sehen will, wo Merkmale abweichen. Deswegen ist die Sicht von außen durch unabhängige Richter umso wichtiger“, sagt Steenken. Die etwa 1350 Mitglieder in den 19 Vereinen, die zum Kreisverband Ostfriesland- Papenburg zählen, verstehen sich als „Erhaltungszüchter“, also diejenigen, die alte, nicht selten gefährdete Rassen vor dem Aus- sterben bewahren – in der Erscheinung möglichst so, wie sie dem ursprünglichen Aussehen entspricht. In Ostfriesland hat die Schau-Saison jetzt wieder begonnen.


Auch zahlreiche Hühner waren auf der Ortsschau zu sehen.

Geflügelpest-Regeln frustrieren Züchter
Für Rademachers Verein ist es am Wochenende die Schau zum 100 -jährigen Bestehen gewesen – mit zwei Jahren Verspätung. Die Vereine in Aschendorf und Papenburg, die auch zum Kreisverband gehören, werden indes um weitere Jahre zurückgeworfen, weil der Landkreis Emsland wegen Geflügelpest-Vorkommen im Kreisgebiet solche Schauen erneut gestrichen hat. Hinzu kommt: „Wir Erhaltungszüchter befassen uns mit robusten Tieren, die den täglichen Freilauf gewohnt sind und eigentlich nur in Stallungen zur Übernachtung und zum Schutz vor Fressfeinden gehalten werden. Immer wie- der und teils quälend lange mussten wir die Tiere aber dauerhaft aufstallen, was sie nicht gewohnt sind und worunter sie leiden. Es ist eine Sache, Tiere für ein paar Tage im Vorfeld einer Schau in einen Stall zu setzen, eine andere, ihnen die Freiheit dauerhaft zu nehmen – und da hätten wir uns von Behörden und Politik schon einen anderen Umgang mit der Geflügelpest gewünscht“, sagt Steenken. „Zumal unsere Tiere viel robuster sind als etwa die Schlachttiere in den Ställen der Geflügelindustrie.“ Unter den Mitgliedern der ostfriesischen Vereine habe es keinen einzigen Fall gegeben. 
Die Tierärztin Kirsten Tönnies (Hattersheim), die zur Vereinigung Tierärzte für verantwortbare Landwirtschaft gehört, pflichtet ihm bei: „Das ist ein jahrzehntealtes Versagen von Behörden und Amtstierärzten in der Tierseuchenbekämpfung. Um der Lobby-Industrie einen Gefallen zu tun, zwingen Behörden hier Menschen, die Tiere zumeist nett halten, zu schlechter Haltung und gängeln sie. Das schützt Mästet, ist aber in keiner Weise tierschutzgerecht.“ 
Der Vereinschef und Züchter Rademacher sagt: „Die Aufstallpflicht, aber auch die fehlenden Schauen sind natürlich zutiefst frustrierend, gerade, wenn man das ganze Jahr über oder mehrere Jahre in Folge auf so ein Ereignis hingezüchtet hat. Und wenn gerade den Alten die Lust abhandenkommt, wächst die Gefahr, dass alte Rassen aussterben“, sagt er. Grundsätzlich wächst laut Landesverbandschef Steenken die Zahl der Mitglieder aber wieder, gerade in Ostfriesland. „Gerade durch Corona haben Menschen den Umgang mit Tieren wieder neu in den Blick genommen und viele haben sich, wenn sie den Platz haben, etwa Hühner angeschafft.“


Ein perfektes Tier: Diese Taube erhielt die Höchstzahl von 97 möglichen Punkten.

Teils belächeltes Streben nach Formvollendung
Immer wieder, sagt Rademacher, sei er auch belächelt worden für sein Hobby. „Für einige bin ich der Taubenmann. Denn ich züchte vor allem Tauben.“ Und: „Es gibt viele Leute, die gehen zum Fußballspiel, gehen zum Turnierreiten oder sammeln Gartenzwerge, fragen aber: Wieso nur züchtest du Vögel?’ Ich hab früher auch Fußball gespielt, aber man ist dann immer wieder weg, die Familie ist in der Zeit allein, und mit den Tieren ist man mehr zu Hause. Jeder sucht sich seins. Mich wurmt nicht, wenn jemand spöttelt.“
Und was reizt ihn so am Züchten, am Streben nach Formvollendung von anderen Lebewesen? „Wir hatten in meiner Kindheit in Moorlage Hühner, Gänse, viele, viele Tauben. Mein Vater hat nicht gezüchtet, aber er hatte große Liebe für die Tiere. Und die ist auch in mir gewachsen, und weil man damals ja nicht viel zum Spielen hatte, habe ich mich viel mit Vögeln befasst und das Interesse ist immer weitergewachsen.“
Erst später sei er zum Züchten gekommen, dazu, Tiere selbst zu verpaaren. Ein wenig, als wenn Eltern die Partner ihrer Kinder aussuchen – ohne die Verantwortung indes, dass weitere Leben gemeinsam zu verbringen.
„Der Reiz ist, dass man immer wieder vor neuen Herausforderungen steht“, sagt Rademacher. „Man erkennt Dinge, die bei der Erscheinung besser sein können, und überlegt sich, mit welchem anderen Tier man hier paaren kann, um die Sachen zu beheben. Aber dann fehlen vielleicht plötzlich Kopfpunkte oder Augenränder, vielleicht glänzt das Gefieder plötzlich weniger. Züchtung ist immer auch ein bisschen Wundertüte, auch weil man nicht immer weiß, was aus vorherigen Generationen mitvererbt wird.“ Vielleicht auch vergleichbar mit analogen Fotografien, bei denen man die Kamera nach Erfahrungswerten einstellt, aber erst nach dem Entwickeln weiß, wie das Bild wirklich aussieht. „Das ist ein bisschen wie Gottspielen, dann haste eine fehlerhafte Schöpfung. Dann meinste, du hast das eine gelöst, dann haste wieder was anderes. Dafür gibt es die Ausstellungen und die Preisrichter, die sich jedes Tier gründlich ansehen, es bewerten und auf eine Karte schreiben, wo was fehlt, das ist sehr wertvoll“, sagt Rademacher. „Deshalb sind Schauen so wichtig. Man fachsimpelt mit anderen, man kriegt Rückmeldungen und gewinnt Wissen: Was muss ich paaren?“ Rademacher hat inzwischen meterweise Wimpel für preisgekrönte Tiere gesammelt, hat etwa 2019 auch einen Deutschen Meister-Titel geholt.
Vier solcher Richter haben die Tiere am Wochen- ende untersucht und bewertet. „Man zählt dann etwa die Schwanzfedern, ob alle da sind, sieht sich den Schnabel an, ob er dem Idealtypus entspricht, schaut, wie straff oder glänzend das Gefieder ist und wie die Tiere stehen“, sagt Theo Suntken (Esens), der seit 44 Jahren Preisrichter ist.
Und so nehmen die Rassezüchter Selektionen vor, nur dass hier nicht die Guten, sondern die Schlechten ins Töpfchen wandern. „Es ist schon so, dass diejenigen mit Makeln irgendwann auch gegessen werden. Ich selbst kann kein Taubenfleisch mehr essen, davon hatte ich über Jahrzehnte zu viel. Aber es ist sehr fettarm und bekömmlich, und ich schenke solche Tiere einem Freund mit empfindlichem Magen, der auch geübt darin ist, sie sauber zu töten, um sie dann zu essen“, sagt Rademacher.


Durch eine Klappe können Rademachers Tauben zum Freiflug starten.

Tierärztin mahnt und lobt
Wenn es um Zucht und Schauen geht, ist Tierärztin Kirsten Tönnies etwas zwiegespalten: „Gerade bei älteren Herren sind oft noch ebenso alte Vorstellungen, dass Tiere keine individuellen Geschöpfe mit Bedürfnissen und Ängsten sind, zu beobachten. Und dann geht es bei Schauen um die Befriedigung des eigenen Egos, und mitunter wird wenig darauf geachtet, den Tieren Rückzugsmöglichkeiten in Ställen zu bieten, die oft zu klein und nicht zum Teil abgedeckt sind. Auch wenn sie zahm sind, können sie in Stress geraten – gerade, wenn da viele Menschen auftauchen, auch mal Finger in den Stall stecken, die sie nicht kennen. Man könne immer nur hoffen, dass die Züchter behutsam mit ihren Tieren umgehen, sie gut pflegen, Hauben auch so beschneiden, dass die Tiere weiterhin gucken können. „Hinter allem müssen wir immer den Bezug zur Massenhühnerhaltung haben, jedes Problem bei Zuchtschauen ist nichts im Vergleich zu dem, was Tiere da erleiden. Und ich finde Vogelzucht etwas Schönes, wenn Menschen sich für diese Tiere interessieren, lernen, was das für tolle Tiere sind, die sie da auch essen und die uns Eier geben. Und wenn so mehr Tiere in hoffentlich gute Haltung kommen.”


Der Züchter zeigt einen Teil seiner Ehrenwimpel, die er errungen hat.